Geschichte

Um mehr über die Herkunft der Schiffchenspitze zu erfahren, konsultierte ich die Bibliothek des Textilmuseums in St. Gallen. Dort stiess ich auf den Titel "Handbuch der Schiffchenspitze" von Tina Frauberger, Düsseldorf, 1914 mit Neuauflage 1919. Ueber Amazon bestellte ich einen Nachdruck dieses Handbuchs von 2015. Darin findet man viele Muster für die Schiffchenspitze und passende Fotos von den ausgeführten Musterarbeiten. Im Kapitel Geschichtliches dieses Handbuchs erfuhr ich einiges über die ersten Hinweise auf die Frivolité-Handarbeit in Frankreich. Bereits im 18. Jahrhundert sind Gemälde von adligen Frauen entstanden, die entweder mit Schiffchen in der Hand dargestellt sind oder aber an ihren wertvollen Kleidern Borden von Schiffchenspitze tragen. Tina Frauberger sah einen Zusammenhang in der Handarbeitstechnik der Schiffchenspitze mit dem Handwerk der Fischer, die mit "Holzschiffchen" ihre Fischernetze herstellten beziehungsweise reparierten. Die Gemeinsamkeit kann man darin sehen, dass es neben dem Faden nur noch dieses einzige Hilfsmittel "das Schiffchen" brauchte, um luftige Maschen und Knoten zu machen. Bei der Schiffchenspitze besteht das Schiffchen aus zwei beidseitig spitz zulaufenden Plättchen, die in der Mitte mit einem Steg verbunden sind. Die spitzen Enden der Plättchen berühren sich leicht. So kann ein Faden in der Mitte rund um den Steg aufgewickelt werden und wenn das Schiffchen am Faden nach unten hängt, kann sich der Faden vom Steg nicht abwickeln. Ursprünglich bestand das Material der Schiffchen aus Knochen, Elfenbein, Horn, Schiltpatt und Holz, später aus Hartgummi und Zelluloid.
Diese Handarbeit wurde in Frankreich im vorindustriellen Zeitalter entwickelt und hielt sich in bürgerlichen Kreisen bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die industrielle Herstellung von dekorativen Borden und Accessoires hat das Interesse an der doch recht zeitintensiven Handarbeit verebben lassen. 

Heute trägt das Internet viel dazu bei, dass Frauen sich in Facebook-Gruppen zusammenfinden, um Muster auszutauschen und sich im Erlernen von Techniken unterstützen. Das Interesse daran orte ich in osteuropäischen Ländern und in ländlichen Regionen. Auf der online-Platform etsi.ch werden sodann in Polen oder anderswo entwickelte neue Muster für Schneeflocken und Weihnachtssterne zu kleinem Preis einzeln angeboten. Bewundernswert finde ich persönlich das "Eleonore Endrucks 1920 Projekt", welches von Muskaan (Meenakshi Jain) aus Indien und Ninetta (Antonina Caruso) aus Italien in Form einer international zusammenarbeitenden Facebook-Gruppe gegründet wurde. Die fleissigen Mitglieder der Facebook-Gruppe befassen sich sorgfältig und beharrlich damit, das deutsche Musterbuch von 1920 durchzuarbeiten und die im 100jährigen Buch von Frau Endrucks publizierten Muster nachzuarbeiten und in schematischer Form neu aufzuschreiben, dies im Hinblick auf einen Neudruck des Buches. Von Ninetta ist das eigene Musterbuch "Il chiacchierino è una cosa seria" 2023 in zweiter Auflage erschienen. Ich habe es über Amazon erworben. Zwischenzeitlich gibt es eine englische Ausgabe davon. 

In Italien wird Schiffchenspitze als Occhi oder Chiacchierino bezeichnet. In Ninettas Buch erfährt man, dass diese Handarbeit in Italien bereits 1929 gut bekannt war. Im "Dizionario Enciclopedico di Lavori femminili", erschienen 1941, wird Occhi genau beschrieben. 

Wie steht es um den Bekanntheitsgrad des Tatting im englischsprachigen Raum? Es gibt viele alte englischsprachige Tatting-Bücher secondhand auf eBay zu kaufen, mit Herkunft USA, Grossbritannien oder Australien. Das neuere Buch "Mastering Tatting - Advanced Designs using basic techniques" von Lindsay Rogers aus dem Jahr 2013 mit Nachdruck 2014 habe ich mir angeschafft. Neben Mustern für Borden und Tischsets bieten die darin erklärten Muster auch die Möglichkeit, einzelne Elemente aus einem komplexen Muster rauszulösen, wie zum Beispiel ein Herz, und eigene individuelle Formen zu gestalten.